Die Mobilitätsbranche durchlebt derzeit schnelle Veränderungen. Elektrische und alternative Antriebe sowie Digitalisierung und automatisiertes Fahren gewinnen an Bedeutung und erfordern leistungsfähigere und intelligentere Fahrzeuge. Dabei steigt die Komplexität der E/E-Systeme und stellt höhere Anforderungen an die fahrzeuginterne Kommunikation. Diesen Herausforderungen nach zukommen setzt die Automobilindustrie auf die Standardisierung, um Kosten zu senken und die Wiederverwendbarkeit von Daten und Komponenten zu erhöhen. Im Interview spricht Prof. Dr.-Ing. Stefan Goß über die Herausforderungen für die Automobilindustrie beim Übergang zu neuen Bussystemen, insbesondere Ethernet. Er geht davon aus, dass aufgrund von Reparaturverfahren und dem Bedarf an spezifischen Kenntnissen weiterhin Kupfer statt Glasfaser in Fahrzeugen eingesetzt wird. Die zunehmende Komplexität der elektronischen Systeme in Fahrzeugen erfordert Hochleistungsrechner (HPC), aber die Multi-Supplier-Strategie der Automobilhersteller erschwert die Konsolidierung von Software-Komponenten auf wenigen HPCs. Dr. Goß warnt auch davor, alles in HPCs zu integrieren, um Gewicht und Material zu sparen, da Sicherheitsanforderungen und die Notwendigkeit eines guten Verhältnisses zwischen Datenrate, Sicherheit und Kosten auch eine Form der Kommunikation über CAN oder LIN erfordern werden.
Diese Veränderung beeinflusst jedoch nicht nur die PKW-Branche, sondern ebenfalls den Bereich für LKW oder fahrende Arbeitsmaschinen. Im Bereich der Agrartechnik fahren die Landmaschinen bereits teilweise autonom, erklärt Dr. Goß, weshalb ein Austausch von Erfahrungen sowie Kompetenzen mit vorreitenden Industrien wichtig sei und die Skalierbarkeit der HPCs auf diese Bereiche sinnvoll wäre. Besonders die Automobilbranche wird mit dem Einsatz von HPCs in Fahrzeugen vor neuen Herausforderungen stehen, z.B. bei der Diagnose. Ein neuer Standard, SOVD (Service-Oriented Vehicle Diagnostics), wird in Zukunft notwendig sein. SOVD definiert dabei eine Schnittstelle, welche die Diagnose am Fahrzeug ermöglicht und zur Vereinfachung möglichst viele existierende Mechanismen und Standards verwendet. Über SOVD wird eine Fehlersuche aus der Ferne über eine ausgelagerte Diagnose im Fahrzeug möglich sein. Hierfür muss jedoch die Zusammenarbeit zwischen Entwicklern von Diagnosetestern und Fahrzeugherstellern deutlich intensiviert werden. Somit ist SOVD erstmal noch ein Zukunftsthema.
Darüber hinaus kann die Standardisierung vor allem bei der Qualität zukünftig als wichtiger Treiber fungieren. Dr. Goß sieht besonders im Bereich automatisiertes Fahren Potenzial zur weiteren Standardisierung, um eine einheitliche und vertrauenswürdige Typgenehmigung zu ermöglichen. Insbesondere die Eigendiagnose der Fahrzeuge und die Sicherheit der Technik müssen hinterfragt werden. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Verantwortlichen, die Betriebserlaubnisse und Homologationen erteilen müssen sowie Versicherungen, deren KFZ-Haftpflichtversicherung in ihrer klassischen Form ihre Bedeutung verlieren wird. Um die Authentizität dessen abzusichern, was ein Recorder vor und nach einem Crash aufzeichnet, sind entsprechende Maßnahmen nötig. Auch in der Kommunikationstechnik und der Datenverarbeitung wurden in Standardisierungsgremien in den letzten Jahren enorme Qualitätssteigerungen erreicht. Viele OEMs und Zulieferer setzen jedoch auf eigene Technologien, um ein positives Alleinstellungsmerkmal zu etablieren. Hierzu betont Dr. Goß, dass es eine schlechte Lösung ist, eigene proprietäre Lösungen als „Defacto-Standard“ zu setzen, da man sich dadurch von einem Anbieter abhängig macht. Für Endkunden sei das weniger problematisch als für Fahrzeughersteller und Zulieferer. Proprietäre Lösungen sollten daher nur ergänzend zu vorhandenen Standards genutzt werden. Dr. Goß warnt vor Überregulierung und Überstandardisierung, da dies dem Freiheitsgrad und der Kreativität schaden würde. Er betont jedoch auch, dass Freiheitsgrade in der Standardisierung eine Differenzierung und letztendlich auch Kundenzufriedenheit ermöglichen können.
Ein zukünftiger Standard wäre beispielsweise in der ePTI (electronic Periodic Technical Inspection), der „TÜV-Prüfung für die Elektronik im Fahrzeug“. Doch gerade im Zusammenhang mit dem Verkauf von Daten schränken proprietäre Lösungen die freie Marktwirtschaft unnötig ein.Denn ein Standard für ePTI-Prüfabläufe könnte die geräteunabhängige Bereitstellung ermöglichen.
Beim Trend Extended Vehicle, bei dem das Auto permanent mit einem externen Backend über Mobilfunk verbunden ist, spricht Dr. Goß zwei ISO-Standards an, die in der Implementierung vorangetrieben werden. Dr. Goß rät dazu, Extended Vehicle bei der Planung neuer Diagnosetechnologien zu berücksichtigen. Standards bieten Vorteile wie Qualitätssteigerung, kürzere Entwicklungszeiten und geringere Stückkosten. Dr. Goß und Softing Automotive setzen auf Standardisierung, während proprietäre Lösungen oft aufgrund eines fehlenden Bewusstseins für Diagnose eingesetzt werden. Dabei sei es jedoch wichtig, dass Standards rückwärtskompatibel sind, um proprietäre Ergänzungen zu ermöglichen.